von Oliver Kielmayer
Zeichnen zwischen Dokumentation und Produktion
Deutlicher wie in jedem anderen Medium verschränken
sich in der Zeichnung die beiden wichtigsten Anliegen der Kunst: Zum einen
die Aneignung von Vorhandenem, zum anderen die Produktion von Welt. Die
Künstlerinnen und Künstler pflegen zu behaupten, ihre persönlichen
Aufzeichnungen hätten keineswegs künstlerisch wertvoll zu sein;
dies gilt für Skizzen, fotografische Schnappschüsse oder unreflektiert
niedergeschriebene Gedanken und Notizen gleichermassen. Was auf den ersten
Blick ein wenig bescheiden klingen mag, hat durchaus etwas für sich:
Zu Recht begnügt sich der Kunstbetrachter nämlich nicht mit der
einfachen Aufzeichnung, sondern erwartet darüber hinaus eine ästhetische
Überraschung. Die Zeichnung im Sinne einer Dokumentation der Welt ist
in der Tat lediglich der erste Schritt hin zu der sehr viel komplexeren
Aufgabe der Produktion von Welt. Alle in der Ausstellung Zeichnen beteiligten Künstlerinnen und Künstler sind sich darin einig, dass sie die Zeichnung ganz und gar nicht als Möglichkeit zur Veräusserung ihres eigenen Selbst interessiert; Ecriture automatique spielt deshalb auch dann keine Rolle, wenn die Formfindungen daran erinnern mögen. Charlotte Hugs ‚Sonicons’ könnte man sich zwar bestens als das Resultat einer versuchten Visualisierung ihres Gefühlszustandes vorstellen, doch handelt es sich in Tat und Wahrheit um die seismographische Aufzeichnung einer Bratsche-Improvisation mithilfe einer beidhändigen Zeichnung. Die ‚Sonicons’ sind allerdings nicht nur fertige Zeichnungen, sondern sie werden – mitunter auch mehrere kombiniert – wiederum zum Anlass für neue Improvisationen. Andy Guhl experimentiert seit langem mit der visuellen Umsetzung von Klängen durch Bildröhren und erzielt damit verblüffend ähnliche Linien wie Charlotte Hug. Die verwandten Strategien der beiden führen im Rahmen der Ausstellung zu einer gemeinsamen Performance: Die Bratschenklänge werden über ein Mikrofon in die Fernsehröhre eingespeist, Andy Guhl manipuliert die dadurch auf dem Schirm entstehenden Zeichnungen mittels eines Magnetfeldes, und das derart modifizierte Bild dient Charlotte Hug wiederum als Vorlage für die Fortsetzung ihrer Improvisation. Der Kreislauf, der sich selber ins scheinbar Endlose fortsetzt, spielt auch in Andy Guhls ‚Feedback-Bildern’ eine wichtige Rolle: Es sind optische Rückkopplungen, die dadurch zustande kommen, dass der gefilmte Ausschnitt über einen Projektor sogleich wieder mit ins Bild kommt und dieses sich – analog zum Spiegel im Spiegel-Effekt – in ein optisches Rauschen verliert. Die Musik spielt auch bei Monica German / Daniel Lorenzi eine wichtige Rolle, allerdings eher in einem übertragenen Sinn. Ihre Faszination für Clubkultur schlägt sich einerseits in ihrer DJ-Tätigkeit nieder, andererseits in der Vorliebe für Objekte, die diese künstliche Welt überhaupt erst generieren: Tonträger, Licht- und andere Effektmaschinen, Kopfhörer, Keyboards, Mikrofone. Zunächst eignen sie sich diese Objekte – häufig bereits selber Aufzeichnungsgeräte! –, zeichnerisch an und sampeln sie anschliessend zu raumgreifenden Installationen. Derart entsteht auf ganz andere Weise ein Kreislauf zwischen Musik und Zeichnung: Versatzstücke aus der Clubkultur werden in der Zeichnung als interessante Objekte markiert, die sich in den Installationen wiederum zu einem Gesamtarrangement verdichten, das an die erlebnishafte und unmittelbare Atmosphäre von Nachtclubs erinnert. Das Vorgehen von Daniella Tuzzi steht jenem von Monica German / Daniel Lorenzi insofern nahe, dass auch sie sich eine bestimmte Umgebung zunächst zeichnerisch aneignet und basierend auf dem derart zusammengetragenen Material ihre Installationen entwirft. Ihre Umgebung definiert sich dabei nicht durch ein von ihr vorgegebenes Interesse, sondern durch die jeweiligen lokalen Gegebenheiten. Soziale und räumliche Aspekte spielen gleichermassen eine Rolle und so hält sich Daniella Tuzzi an dem Ort, wo ihre Arbeit später ausgestellt werden soll, stets eine längere Zeit lang auf. Sie macht Skizzen, notiert sich Gedanken und spricht mit vorbeikommenden Leuten. Das derart gewonnene Rohmaterial fliesst schliesslich in dreidimensionale, zu einem grossen Teil gezeichnete Installationen ein, die mit der sie inspirierenden Umgebung durchaus noch gemeinsame Referenzen haben, sich davon jedoch eindeutig emanzipieren. Aus den Objets trouvées in Form von Skizzen, Geschichten und Notizen entsteht ein neues Beziehungsgeflecht, assoziativ und vage erzählerisch. Anita Zimmermann interessiert sich in ihren ‚Sehfallen’ für perspektivische Phänomene der Zeichnung, für deren Vermögen, die Illusion eines Raumes zu erzeugen, den es gar nicht gibt. Die Grundaussage des Trompe l’oeil für die Kunst, dass die künstlerische Welterschaffung letztlich nur in der Imagination möglich sei, drückt sie damit durch das Medium der Zeichnung aus. Dazu passt vielleicht, dass sie andererseits ihre vielen Skizzen nicht zu installativen Inszenierungen verarbeitet, sondern als enzyklopädisches Konvolut persönlicher Realitätsausschnitte belässt. Anita Zimmermanns zeichnerische Sammlertätigkeit ist wohl am eindeutigsten an der Aufzeichnung von Realität orientiert, die sie sich im Prozess des Zeichnens aneignet und die als Zeichnung schliesslich dem Betrachter als unprätentiöses Dokument gegenübertritt. Im viermaligen Abzeichnungsversuch einer Fotografie wird indessen deutlich, dass objektive Dokumentation – wenigstens mit den Mitteln der Zeichnung – ein Ding der Unmöglichkeit bleibt: Zeichnung mag zu verschieden grossen Teilen Dokumentation sein, Produktion ist sie immer. |